Es war Anfang Oktober 2016. Jaymie und ich hatten unsere Fahrradtour ein paar Tage zuvor beendet und nach einem kurzen Aufenthalt in Vancouver ging es für uns ab nach Seattle. Unserem letzten Zwischenstop, ehe wir in das für uns heilige Montréal zurückkehren sollten. Wir versuchten das Beste aus der kurzen Zeit in den USA zu machen, liefen sehr viel durch die Stadt und dabei trafen wir auf ihn.

Auf der Verkehrsinsel

Er stand quasi mitten auf der Straße, genauer gesagt auf einer kleinen Verkehrsinsel, mit einem Schild in der Hand und versuchte in dem stockenden Berufsverkehr den ein oder anderen Dollar von Autofahrern sowie Passanten zu erbetteln. Als wir an ihm vorbeiliefen, fiel mein Blick auf seinen Rucksack. „Lantus“, schoß es mir sofort durch den Kopf. Für die Nicht-Diabetiker: Lantus ist ein Langzeit-Insulin und davon hatte Scotty einige, für Diabetikeraugen, unverkennbare graue Pen’s in einer Tasche seines Rucksacks. Soweit ich mich richtig erinnere, war ich etwas perplex, sprach ihn kurz auf das Insulin an, worauf er bestätigte, dass er Typ 1er sei. Irgendwie ging alles sehr schnell und es geschah im Vorbeigehen. Ein paar Schritte später, bat ich Jaymie deshalb kurz anzuhalten, machte kehrt und wollte mehr über den Typen mit dem Insulin erfahren.

Er stellte sich als Scotty vor, machte auf mich einen sehr jungen Eindruck, war aber laut eigener Aussage bereits 35, und durch den Diabetes kamen wir sehr schnell ins Gespräch. In dessen Verlauf erzählte er mir, dass sein Diabetes riesige Probleme in seinem Leben verursacht hatte, es für ihn aufgrund von Folgeerkrankungen, insbesondere Augenproblemen, quasi unmöglich sei einen Job zu finden und er deshalb mit seiner Freundin auf der Straße lebt. Genauer gesagt in einem der vielen Zelte, die man hier und da sieht, wenn man durch Seattle läuft, denn die Obdachlosigkeit ist an manchen Ecken der Stadt schwer zu übersehen.

Gefangen in diesem Teufelskreis aus Diabetes, Folgeerkrankungen, keinem Job und dementsprechend auch keinem Geld um adäquate Hilfe zu erhalten, sei er letzten Endes auf der Straße gelandet.  Ihr könnt euch ja mal die Preisentwicklung für Insulin in den USA über die letzten Jahre anschauen. Eine kurze Suche bei Google wird euch das Ausmaß der Problematik für Diabetespatienten in Amerika Ruckzuck verdeutlichen. Dass das Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ nicht gerade über das beste Gesundheitssystem verfügt, ist den meisten von euch bestimmt bekannt. Und noch bevor ich mit Scotty ins Gespräch kam, ahnte ich bereits, dass diese Tatsache in irgendeinem Zusammenhang mit seiner jetzigen Situation stehen könnte.

Nachdem ich ihm etwas mehr über mich erzählte und ihn fragte ob es ok sei, seine Geschichte auf meinem Blog zu teilen, machten wir ein noch Foto, ehe sich unsere Wege auch schon wieder trennten. Fünf Dollar gab ich ihm noch zum Abschied. Ein lächerlicher Tropfen auf den verdammt heißen Stein namens Diabetes.

Was bleibt?

Scotty’s Geschichte hat mich in den Tagen nach unserer Begegnung gedanklich schwer beschäftigt. Und auch heute noch bringt sie mich ins Grübeln. Sie zeigt die knallharte Realität, der sich viele chronisch kranke Menschen, in diesem Fall Menschen mit Diabetes, Tag für Tag stellen müssen und wie die Krankheit das Leben komplett auf den Kopf stellen kann.

Ich weiß natürlich nicht, welche anderen Faktoren zu seiner Obdachlosigkeit geführt haben, schließlich kenne ich nicht seinen kompletten Lebenslauf. Seine Erkrankung hat ihm in seinem Heimatland jedoch verdammt schwere Steine in den Weg gelegt, die man nicht eben mal mir nichts, dir nichts auf die Seite schieben kann.

Was für uns in Deutschland mittlerweile völlig normal ist, stellt Menschen in anderen Ländern vor unglaubliche Herausforderungen. Erst vor kurzem habe ich wieder eine Reisende mit Diabetes getroffen, die haargenau darauf aufpassen muss wie viele Teststreifen sie pro Tag benutzt. Ohne diese penible Kontrolle würde sie an manchen Tagen ihre Therapie ohne Messungen gestalten müssen. Und wie man seinen Diabetes so auf Dauer erfolgreich managen kann, ist mir echt schleierhaft. Sie kam übrigens aus Kanada. Auch ein Land von dem man das bestimmt nicht erwarten würde.

An dieser Stelle könnte ich mich jetzt wahrscheinlich noch in die Unendlichkeit philosophieren, was Themen wie (Un-)Gerechtigkeit & Co. betrifft, aber ich möchte hier für heute einen Schlussstrich ziehen, sodass sich jeder seine eigenen Gedanken zu Scotty’s Geschichte machen kann, die dann wiederum gerne in den Kommentaren geteilt werden dürfen 🙂

Wir sollten auf jeden Fall verdammt dankbar über unsere Versorgung zu Hause in Deutschland sein, wo mittlerweile immer mehr Kosten von den Kassen übernommen werden, sodass wir in der Lage sind ein besseres, ein leichteres Leben mit unserem Diabetes zu führen. Denn eine Selbstverständlichkeit ist es im 21. Jahrhundert noch lange nicht…