Ein Jahr Kanada ist quasi vorüber und im HI-Montréal ist meine letzte Woche angebrochen. Die Arbeit liegt hinter mir und ich darf noch einmal die Stadt in vollen Zügen genießen. Und das beinhaltet unter anderem mit allen Volunteers, den Gästen und dem Rest der Hostel-Crew morgens an der Bar zu sitzen und gemeinsam zu frühstücken. Die Atmosphäre ist für mich vielleicht nicht mehr ganz dieselbe, wie es zu den besten Zeiten war, denn ich fühle mich überspitzt gesagt fast schon wie ein Überbleibsel der letzten, wenn nicht sogar vorletzten Volunteer-Generation. Kein Wunder, da die Durchschnittszeit der meisten Volunteers ungefähr bei drei bis fünf Monaten liegt. Da steche ich mit meinen insgesamt zehn Monaten auf dem Buckel schon etwas heraus. Aber auch jetzt ist das Frühstück mit dem Team immer noch ein Highlight des Tages.

Während ich mich also gut gelaunt am Buffet bedient und meinen Platz an der Bar eingenommen habe, betritt einer der neuen Volunteers den Raum. Er ist vor ein paar Tagen zum Team gestoßen und nachdem ich ihn gestern an der Hostelbar eingearbeitet habe weiß ich schon, dass ich nach langer Zeit mal wieder auf einen Charakter gestoßen bin, mit dem ich mich nur schwer anfreunden kann. Wieso kann ich nicht einmal genau erklären und gerade wenn ich jemanden nicht lange genug kenne, habe ich gelernt nicht voreilig zu urteilen. Mein Bauchgefühl lässt mich jedoch zu diesem Schluss kommen.

So wirklich jucken tut mich das aber nicht, denn ich bin sowieso bald raus und es ist ja vollkommen normal, dass man hier und da mal auf Personen trifft mit denen man nicht ganz so gut klar kommt. Von daher alles ok! Jedenfalls dachte ich das…

 

Aus dem Nichts! Die Stimmung kippt

Es hat schon seine Gründe, wieso ich mittlerweile meinem Bauchgefühl sehr viel Aufmerksamkeit schenke. Denn als ich da so nichtsahnend an der Bar saß, mein Frühstücksei pellte und mein Insulin spritze, hörte ich besagten neuen Volunteer auf der anderen Seite der Theke laut fragen: „You are diabetic?“, woraufhin ich wie schon etliche Male zuvor ganz normal mit einem „Yes“ antwortete. Was danach folgte, kann und werde ich auch nie verstehen: „Oh shit. You are fucked. You are going to die.“, begleitet von einem Glucksen und Grinsen auf seinem Gesicht.

Um jedem Fan von schwarzem Humor sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen: Der Typ meinte diese Aussage ernst! Im Anschluss daran ließ er noch ein paar schlaue Fakten folgen, wonach hohe Blutzuckerwerte ja quasi alles im Körper angreifen, das Grinsen weiterhin auf den Lippen. Für mich komplett neue medizinische Offenbarungen des Mannes, der da im Pyjama vor mir stand, von denen ich bis dato noch nie etwas gehört hatte! Achtung: Sarkasmus!

Jetzt aber mal jeglichen Quatsch beiseite. Es war früh am Morgen, ich war erst vor ein paar Minuten aufgestanden, voller Vorfreude aufs Frühstück und die Leute aus dem Hostel. Da knallt mir jemand, der mich quasi null kennt, aus dem Nichts so eine Bombe in die Fresse. Das ist hart, tut verdammt weh und machte mich damals einfach nur sprachlos.

Für alle die sich jetzt vielleicht darauf gefreut haben, dass ich dem Kerl ordentlich die Meinung gegeigt habe: Sorry, ich muss euch enttäuschen. Ich war vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt worden, nuschelte mir irgendetwas in meinen nicht vorhandenen Bart und konnte aus dem Stehgreif nicht Paroli bieten. Eine dieser klassischen Situationen in denen man im Nachhinein ja sooooo viel hätte sagen wollen, aber nein. In diesem Moment war ich hilflos.

Ich saß da mit meinem gepellten Frühstücksei, schlagartig jeglicher guten Stimmung beraubt und meinen eigenen Gedanken überlassen, was da denn eigentlich gerade passiert war. Ein regelrechter Schockzustand, ausgelöst durch diese völlig absurden, unvorhergesehenen und insbesondere unverschämten Aussagen unter der Gürtellinie. Ich weiß nur, dass eine ungeheure Wut in mir brodelte, die ich nur schwer unter Kontrolle hielt.

 

Was einem chronisch Kranken bei solchen Aussagen durch den Kopf geht

Soweit also zu dem was geschah. Perfekter Zeitpunkt einmal Abstand von der räumlichen Situation zu nehmen und in die Gedankenwelt eines chronisch kranken Menschen, genauer gesagt Mensch mit Typ 1 Diabetes, ergo mir, einzutauchen. Welche Gedankengänge werden durch solche Aussagen in mir  ausgelöst oder präziser formuliert was können sie potenziell auslösen? Die kurze Antwort lautet: Richtig viel!

Zunächst einmal die bereits angesprochene Wut, die in mir aufkam und die sich bis ins unermessliche hochschaukelte. Damit einhergehend auch eine Art Schamgefühl vor den Anwesenden so bloß gestellt zu werden. Denn auf einmal steht man ohne Vorwarnung im Mittelpunkt des Geschehens und soll dazu Stellung beziehen, obwohl man mental gerade gar nicht dazu in der Lage ist darüber zu sprechen oder auch schlicht und ergreifend keinen Bock hat das Thema durchzukauen. Das meine ich auch damit, wenn ich sage, dass ich auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Ich war in diesem Moment einfach so unglaublich weit von jeglichen Diabetes-Gedanken und gutdurchdachten Stellungnahmen zum Thema Diabetes entfernt!

Was im schlimmsten Fall ausgelöst wird sind Gedanken über mögliche FolgeerkrankungenDauerhafte Schäden, die der Diabetes verursachen kann, über die man als Betroffener ab Tag 1 der Diagnose Bescheid weiß und die mir gerade eben aufs Neue so diskret vermittelt wurden. Ich gelange nach vier Jahren mit Diabetes nur noch selten in diese Negativ-Gedankenspirale bestehend aus Nervenschädigungen, Amputationen, Gefäß-, Augen- und jeglichen anderen Erkrankungen, da ich am Ende des Tages immer wieder zu dem simplen Schluss komme, dass sich diese Gedankenmacherei einfach nicht lohnt. Ich kann und will nicht in die Zukunft schauen. Wäre ja langweilig wenn ich schon wüsste was als nächstes passiert! Ich mache lieber hier und jetzt mein Ding, kümmere mich dabei so gut ich es kann um meinen Diabetes und was dann passiert wird sich schon noch früh genug zeigen.

Tolle Einstellung hab ich mir da angelegt, oder? Bedeutet aber noch lange nicht, dass ich gegen alles immun bin und deshalb finde ich mich dann doch manchmal in der ersten Reihe meines persönlichen Kopfkinos wieder. An diesem Morgen am Frühstückstisch waren es neben meiner Wut, vor allen Dingen diese Ängste, die mich über die nächsten Stunden nicht los ließen. Ein richtiger Scheiß-Mix aus Emotionen, die sich nicht so einfach abschütteln ließen…

Und ab hier überlasse ich euch, sei es Mensch mit Diabetes oder Mensch mit ohne-Diabetes euren Gedanken. Schreibt sie mir wie immer gerne in die Kommentare.

 

Privatsphäre, Empathie und noch mehr Motivation!

Gegen Ende möchte ich noch ein paar Worte verlieren, die für das Verständnis des Textes bzw. meiner Sichtweise eventuell ganz zuträglich sind.

Ich verstehe meine Krankheit als Teil meiner Privatsphäre und am Ende des Tages möchte ich derjenige sein, der entscheidet, ob ich darüber reden möchte oder nicht. Ich bin zwar jemand der super gerne mit anderen Leuten über Diabetes spricht, was sich wahrscheinlich auch darin äußert, dass ich diesen Blog hier betreibe, aber Grundvoraussetzung für Gespräche jeglicher Art ist, dass sie zumindest auf Augenhöhe stattfinden und auf ansatzweise ernsthaftem Interesse sowie gegenseitigem Respekt basieren.

Wahrscheinlich bin ich aber am Ende des Tages einfach zu naiv und gutgläubig, dass dies in der Realität auch wirklich so ist. Oder besser gesagt: Ich weiß ja, dass die Realität anders ist, trotzdem kann ich manchmal nur darüber staunen zu welchen Aussagen sich manche Leute hinreißen lassen.

Eventuell hätte mich das alles noch nicht einmal so geschockt, wenn nicht diese ungeheuer dreiste Arroganz in der Präsentation seines Diabetes Referat gelegen hätte. Ich teile ja auch gerne hier und da mal einen Spruch aus, der dann aber auch klar von mir als Sarkasmus gezeichnet wird und ich achte besonders darauf wie jemand danach reagiert, damit ich mich im Fall der Fälle auch bei der Person entschuldige. Denn nicht jeder kann mit dieser Art von Humor umgehen und das sollte man immer im Hinterkopf behalten!

Aber wie bereits gesagt war hier nichts von schwarzem oder irgendeiner anderen Art von Humor in Sicht. Es war einfach nur eine unverschämte Aussage mit dem Ziel… ja, welchem Ziel eigentlich? Klärt mich bitte auf! Denken solche Menschen wirklich, sie könnten einem Betroffenen, der tagtäglich damit lebt irgendetwas Neues vermitteln, weil sie darüber irgendwo mal etwas gelesen haben? Und wenn ja, wieso auf diese Art und Weise?

Ich habe wirklich keine Ahnung für was dieser Typ in seinem Leben kompensieren muss, dass er einem chronisch Kranken sowas um die Ohren haut. Ein Mensch, der mit sich weitestgehend im Reinen ist und auch nur über ein Fünkchen Menschenverstand verfügt, lässt sich nach meinen bisherigen Erfahrungen nicht zu solchen „No-Go“ Aussagen hinreißen. Und genau das ist es, was mich im Endeffekt zu dem Schluss kommen lässt, dass diese Person für ihren Mangel an Empathie eigentlich nur zu bemitleiden ist.

Wenn ich diesem Vorfall eine gute Sache abgewinnen kann, dann nur eine: Ich sehe mich noch mehr darin bestärkt über Diabetes und chronische Krankheiten zu sprechen und aufzuklären. Wissen und Erfahrung sind dabei die wichtigsten Werkzeuge dieses komplizierten Unterfangen und wer weiß, vielleicht verringert sich dadurch in Zukunft die Zahl der allwissenden Experten in Pyjama.