Ich bin aufgeregt. Sehr aufgeregt und verdammt nervös. Fühlt sich so an als würde sich mein Magen in einer Waschmaschine befinden, die auf Hochtouren läuft. Bescheuertes Beispiel ich weiß, aber gerade irgendwie verdammt zutreffend und wie man sich vielleicht vorstellen kann sehr unangenehm.

Als ich mich dann von meiner Familie am Flughafen verabschiede und mich auf den Weg in Richtung Gate mache kommt ein erster Anflug von Euphorie und Reiselust auf, der aber sofort verschwindet, als ich durch den Sicherheitscheck muss. Als ich mein Insulin auspacke sagt einer der Flughafenangestellten „Sie dürfen nur einen gewissen Vorrat an Medikamenten mitnehmen.“ Wie viel, dazu sagt er nichts und schickt mich weiter. Zum Glück das erste und letzte Mal, dass ich auf meine Medikamente angesprochen werde. Dann der erste Vorfall bei dem ich schmunzeln muss. „Wir haben einen Abstrich von ihrem Laptop gemacht und Hinweise auf gefährliche Substanzen gefunden.“ Daraufhin wird ein Flughafenpolizist mit einer verdammt großen Waffe zu mir gerufen. Ich versuche mir ein Lachen zu verkneifen, während er mir Fragen zu meinem Reiseziel und meinem Beruf stellt. Alles in allem ein ganz nettes Gespräch. Er ist keiner von denen, die nochmal extra böse drein schauen und erklärt mir wie es weitergeht und dass ich in fünf Minuten wahrscheinlich zum Gate gehen kann. Es wird nochmal ein Abstrich von meinen Klamotten gemacht und danach ist alles ok. Ich werde nochmal freundlich darauf aufmerksam gemacht, dass so was öfters vorkommen kann als normalerweise, wenn man Medikamente im Handgepäck mit sich führt, wünsche einen schönen Tag und mache mich auf den Weg zum Gate.

Und da ist sie wieder, die Aufregung. Jetzt noch schnell, das erste kurze Video machen bevor es in den Flieger geht! Ich nehme meine Handykamera raus sehe mich auf dem Display und denke mir nur „Ach du Jammer, entspann dich mal Junge.“ Naja, die Zeit drängt und während ich versuche so cool und gelassen wie möglich mein erstes Video zu drehen, schlendere ich den Gang zum Gate hinunter. Ehe ich mich versehe stehe ich auch schon vor dem Gate und merke, dass nicht mehr viel Zeit für Videos ist, da das Boarding schon startet. In der Hoffnung halbwegs anständiges Material zu haben stelle ich mich in die Reihe wartender Menschen und kann regelrecht meinem Herz beim Schlagen zuhören.

Ehe ich mich versehe sitze ich auch schon im Flieger und durch einen glücklichen Zufall setzt sich Victoria neben mich. Eigentlich hätte sie woanders gesessen aber mein Nachbar fragt sie, ob sie Plätze tauschen können. Ich weiß, dass wir gleich ins Gespräch kommen werden, ich meine wir sitzen ja immerhin die nächsten 9 Stunden nebeneinander, da wird bestimmt mal jemand „Hallo“ sagen. Zunächst bin ich aber erst mal mit meinen 3 Meter langen Beinen, dem Rucksack, Kissen und Decken der Fluggesellschaft sowie der viel zu kleinen Sitzgelegenheit beschäftigt. Ach ja und da war ja noch die Anspannung! Dementsprechend tollpatschig sieht das Ganze dann bestimmt auch aus. Egal, ich bin sowieso gerade in meiner eigenen Gedankenwelt gefangen.

Nach 5 oder 10 Minuten kommen Victoria und ich dann ins Gespräch und hören auch für die nächsten 3 Stunden nicht damit auf. Sie ist Kanadierin und geht auf eine Millitary School, für die sie in Amsterdam ein Turnier bestritten hat. Wie die Sportart genau heißt… tut mir wirklich leid aber ich hab es vergessen! Sie erklärt mir, dass sie mit irgendwelchen mittelalterlichen Waffen kämpfen und als sie mir ein Foto zeigt sehe ich, dass sie quasi wie Fechter angezogen sind, aber eben keinen Degen, sondern Schwerter und andere Waffen benutzen. Mal was völlig anderes und ich find es wirklich interessant. Nicht zu vergleichen mit den „Standardsportarten“. Ich erzähle ein bisschen von mir, meinem Work & Travel-Aufenthalt in Australien und Neuseeland, wo sie unbedingt mal hin möchte und so geht das eigentlich über den ganzen Flug. Außerdem gibt sie mir schon super viele Tipps zu den kanadischen Banken, Telefonanbietern und den verschiedenen Regionen Kanada’s. Und was noch viel wichtiger ist, ich trinke mein erstes kanadisches Bier mit ihr. Schmeckt gut, wenn man gerne Wasser trinkt. 😉

Die Zeit vergeht dabei wirklich wie im Flug (He!) und unter uns erhasche ich den ersten Blick auf schneeweiße Flächen. Je näher wir Montréal kommen, desto weniger Schnee ist zu sehen und die Sonne strahlt auf die nun doch sehr braune und kahle Landschaft. Während sich mein Kiefer zu Beginn des Fluges noch total verspannt und unangenehm angefühlt hat bin ich immer relaxter geworden. Doch je näher wir dem Boden kommen, desto mehr schleicht sich wieder die Nervosität unter meine Haut. Die „Immigration“, sozusagen der Endgegner, ist das Einzige was mir jetzt noch vor einer erfolgreichen Einreise im Weg steht. Mit einem Touristenvisum darf man bis zu drei Monate an medizinischer Versorgung mitnehmen. Wie es bei einem Work and Holiday Visum ist habe ich komischerweise nirgends gefunden. Nur Spekulationen in irgendwelchen Foren, dass bis zu 6 Monate ok sein müssten. Außerdem habe ich vorher noch mit einem Bekannten geschrieben, der in Australien ein Jahr unterwegs war, für 6 Monate Medikamente und Hilfsmittel dabei hatte und nicht ein einziges Mal auf seiner Reise darauf angesprochen wurde. Die Ausstattung für die restliche Zeit konnte er sich zuschicken lassen. Eine Information, die mir auch meine Diabetesberaterin gegeben hat. Wieso also aufgeregt sein Michi? Ich weiß es wirklich nicht. Wahrscheinlich gehört es einfach dazu, wenn man sich auf eine Reise macht, bei der ein paar Dinge ungewiss sind. Naja, dann einfach mal die Aufregung akzeptieren und raus aus dem Flieger.

Ich lerne auf dem Weg zur Immigration noch kurz Victoria’s Freundinnen kennen, die mit ihr übrigens Silber gewonnen haben. Völlig vergessen zu erwähnen, Glückwunsch! Ich checke noch tausend Mal meinen Rucksack, ob ich auch wirklich nichts im Flieger vergessen habe und stelle mich in die lange Schlange für Reisende aus Europa. Ich verabschiede mich also vorerst von Victoria und ihren Freundinnen, bedanke mich und warte. 45 Minuten oder so. Was soll man machen. Dann rede ich mit dem ersten kanadischen Beamten, den ich aus Anstand mit einem „Bonjour“ grüße und der mir daraufhin auf sehr schnellem französisch anfängt Fragen zu stellen. Die erste kann ich noch verstehen und beantworten, dann muss ich kapitulieren. Halt Stopp! Jetzt rede ich englisch und das ganze klappt schon sehr viel besser. Nach den üblichen Fragen, was ich denn hier mache und wie lange ich bleiben will verweist er noch auf das Einreiseformular, dass ich im Flieger bekommen und ausgefüllt habe. Dort wird gefragt, ob man in letzter Zeit eine Farm besucht hat und ob man vor hat in Kanada auf eine zu gehen. Ich wusste von dieser Frage bereits, da ich darüber in Foren gelesen habe, dort aber wie so häufig wild herumspekuliert wurde und die Leute geteilter Meinung waren, was man denn nun ankreuzen soll. Nach Absprache mit jemandem der sich damit auskennt, hatte ich mich dazu entschieden „ja“ anzukreuzen und die Sachlage dann dem Beamten zu schildern. Ich weiß ja schließlich nicht, ob ich wieder auf einer Farm lande um zu arbeiten. Ich werde dann aber darüber aufgeklärt, dass man nur „ja“ ankreuzen muss, wenn wirklich beide Sachen der Fall sind. Da ich in Deutschland aber auf keiner Farm war, müsste ich also „nein“ ankreuzen, was dann auch sofort abgeändert wird. Danke Mister Beamter Sir, nochmal was gelernt. 😛

Dann schickt er mich in den Immigration-Room, der direkt hinter seiner Kabine ist. Dort bekomme ich nochmal ähnliche Fragen gestellt, soll meine Auslandsversicherung vorzeigen und dann wird auch schon meine „Working Permit“, also die Arbeitserlaubnis ausgestellt. Keiner fragt mich nach Medikamenten und plötzlich ist die Welt wieder ganz in Ordnung und entspannt. Ich hole mein Backpack ab, wo ich nochmal Victoria treffe, gehe mit ihr Richtung Ausgang, verabschiede mich, tausche meine Euronen in kanadische Dollar um und frage an der Info nach dem Fahrkartenautomaten für den Bus. Übrigens auf Französisch und ich verstehe alles! Gut…vielleicht hat die Dame auch während sie gesprochen hat auf den Fahrkartenautomaten ein paar Meter weiter zu ihrer Rechten gezeigt aber egal, das zählt!

Ich will eigentlich noch ein kurzes Ankunftsvideo vor dem Flughafen machen aber da der nächste Bus schon in zwei Minuten abfährt verzichte ich drauf. Also ab zum Hostel. Auf meiner Beschreibung steht, dass es angeblich 40 Minuten bis zur Haltestelle sind an der ich raus muss. Also entspanne ich mich und schaue mir die Straßen an die ins Stadtzentrum führen, ehe ich die Hochhäuser der Stadt sehe. Ich versuche ein paar Aufnahmen zu machen, die ich in die Videos einbauen will, doch der Bus wackelt allerdings so sehr, dass ich nicht weiß, ob etwas Brauchbares dabei ist. An einer ruhigen Kameraführung muss ich definitiv noch arbeiten.

40 Minuten Bus also… Pustekuchen! Nach 20 bis 30 Minuten schaue ich mich an einem Haltestopp um und sehe die Straßennamen, die mir signalisieren: „Ich muss raus!“ So schnell, wie der Busfahrer gehalten hat so schnell ist er auch schon wieder losgefahren. Ehe ich meine außergewöhnlichen Französischkenntnisse zum Einsatz bringen kann und einen Satz parat habe, indem ich nach meiner Haltestelle frage sind wir auch schon einige Meter weiter. Nach meiner gescheiterten Fragestellung auf Französisch antwortet er mir in gebrochenem Englisch, das was ich schon wusste. „Gerade dran vorbei gefahren“. Er ist so nett und lässt mich an einer Haltestelle raus, an der er normalerweise gar nicht halten muss. Super nett! Von mir aus wäre ich auch noch etwas weiter gefahren, da ich mir nach dem langen Flug sowieso noch die Beine vertreten wollte und ich gerne durch neue unbekannte Städte schlendere. Ich mache mich nachdem ich ausgestiegen bin auch gar nicht auf den Weg ins Hostel. Ich merke mir nur den Straßennamen und die ungefähre Richtung und ziehe meine Runden durch die Innenstadt von Montréal. Im Gegensatz zu Australien fällt man hier mit riesigem Backpack übrigens auf wie ein bunter Hund. Jedenfalls sehe ich keinen anderen Backpacker mit Reiserucksack. Auf meinem Weg werde ich von vielen Leuten gefragt, ob ich Tickets fürs Eis-Hockey haben möchte. Es spielen die Calgary Flames gegen die Montréal Canadiens, wie ich später im Internet herausfinde. Ich lehne dankend ab, aber ein Spiel werde ich mir in den nächsten 6 Monaten bestimmt noch anschauen.

Zufällig treffe ich nach einer halben Stunde auf die Straße, in der sich mein Hostel befinden soll. Da es anfängt dunkel zu werden mache ich mich auf den Weg und treffe einige Leute mit irischer Flagge und typischem Saint Patrick’s Day Outfit. „War der nicht schon vor ein paar Tagen?“, frage ich mich.

Als ich im Hostel die Tür öffne stehe ich sofort an der Rezeption hinter der zwei Mädels stehen. Davor zwei Typen, die offensichtlich schon länger hier sind und sich mit Ihnen unterhalten. Als ich mit „Hello“ grüße sagt der erste leise „Il n’y a pas de chambre.“ Ich drehe mich grinsend um und wiederhole den Satz und ich sehe, dass er nicht damit gerechnet hat, dass ich ihn verstehe. Er lacht auch und ich bin stolz wie ein Oscar, dass ich ihn verstanden habe.

Von den Mädels hinter der Rezeption erfahre ich, dass ich mich mit dem Datum des Saint Patrick’s Day nicht geirrt habe aber heute noch eine Parade dazu stattgefunden hat. Das erklärt einiges.

Nach einem coolen Gespräch an der Rezeption erfahre ich, dass ich ein Upgrade vom 8-Bett Zimmer in ein 6-Bett Zimmer zum gleichen Preis bekommen habe. „Läuft bei mir“, denke ich und erfahre auch, dass man tatsächlich in allen HI-Hostels in Kanada gegen Übernachtung und Frühstück arbeiten kann. Ein Angebot, dass ich vielleicht noch in Anspruch nehmen werde um etwas Geld zu sparen und vielleicht auch noch dabei helfen wird meine Französischkenntnisse zu verbessern. Aber das gilt noch abzuwarten. Dann bekomme ich noch ein Lob von der Dame an der Rezeption, dass mein Französisch ganz gut ist und meine Laune ist auf dem Höhepunkt angekommen.

Dann mache ich mich auf den Weg in mein Zimmer, wo ich David kennen lerne, der aus Kalifornien kommt und in New York Politik studiert. Ein Thema über das man sich momentan sehr lange unterhalten kann. Er ist in den Ferien zwei Wochen durch Kanada gereist und hat nun seinen letzten Abend hier im Hostel, ehe es wieder für ihn ab nach New York geht. Wir verstehen uns auf Anhieb sehr gut und schon wieder vergehen 1 ½ Stunden in denen ich mich mit ihm austausche und mir fällt ein, dass ich noch mein Langzeitinsulin spritzen muss. Im Flieger hatte ich eine kleine Menge Kurzzeitinsulin gespritzt um die Zeitumstellung auszugleichen.

Ich muss sagen ich übernehme bei dem Gespräch eher die Rolle des Zuhörers. Ich habe zwar viel von den Vorwahlen im Internet verfolgt, aber ich bin jetzt nicht gerade ein politisches Superbrain und mich interessiert auch viel mehr wie er als US-Amerikaner darüber denkt. Ich merke sofort, dass er für seine 18 Jahre ziemlich viel auf dem Kasten hat und versuche so viel wie möglich von dem zu verstehen was er mir sagt, was mit wachsender Müdigkeit immer schwieriger wird. Zeit für ein Bierchen nehme ich mir dann aber noch mit ihm und wir lernen an der Bar zwei Mitarbeiter und auch flüchtig ein paar Franzosen und Kanadier kennen.

Zu dem Bierchen gesellen sich dann noch zwei kostenlose bunte Shots aufs Haus, eine Pizza und eine Cola. Und der Blutzucker? Ein Ausreißer auf 230 mg/dl aber später über die Nacht liegen die Werte bei 115 mg/dl. Ich peile normalerweise immer Werte zwischen 100 und maximal 150 an. Passt also.

Ach übrigens, mittlerweile sitzen wir seit 3 oder 4 Stunden an der Bar und unterhalten uns immer noch über Politik, Deutschland, Amerika usw. Als ich todmüde ins Bett fallen will, treffen wir noch unseren anderen Room-Mate, der so um die 40 oder 50 Jahre sein müsste und scheinbar jede Sprache der Welt beherrscht. Vor allen Dingen hat er aber in diesem Moment für meinen Geschmack ein bisschen zu viel Energie und versucht mit mir noch deutsch zu sprechen. Irgendwie find ich es anfangs amüsant, versuche zu lachen und noch kurz darauf einzugehen. Dann geht aber wirklich nichts mehr und ich lege mich schlafen.

Ich habe keine Ahnung was dann in dieser Nacht wirklich los war und ich werde es auch nie erfahren. Ich weiß nur, dass es mir die ganze Nacht so vorkommt als würde besagter Room-Mate andauernd zwischen Badezimmer und seinem Bett hin und her pendeln, während er nebenbei scheinbar seine Sachen packt, sodass ich immer wieder wach werde und irgendwann für eine halbe Stunde nicht mehr schlafen kann. Ich weiß wirklich nicht, ob ich lachen oder weinen soll, entscheide mich dann aber fürs Lachen und als er dann um 5 Uhr morgens das Zimmer verlässt… richtig! Die anderen zwei im Zimmer fangen an zu schnarchen. Zum Glück aber nur für ein paar Minuten und danach bekomme ich endlich meinen langersehnten Schlaf.

Alles in allem also, trotz anfänglicher Aufregung, Nervosität, 3 Meter langer Beine und falschen Angaben im Einreiseformular ein super Start in mein Abenteuer Kanada und ich freue mich jetzt schon riesig auf weitere heimliche Toilettenliebhaber sowie Schnarchnasen, die mir die Nachtruhe versüßen. Spaß bei Seite, es hätte wirklich nicht besser und lustiger ablaufen können und ich bin schon sehr gespannt auf das was noch bevorsteht!

In diesem Sinne hold your toilets tight et à bientôt aus Montréal,

Michi