7.30 Uhr auf unserem Zeltplatz im Goldstream Provincial Park. Jaymie und ich haben vor 3 Tagen unsere Fahrradtour gestartet und stehen heute vor unserer ersten echten Herausforderung.

Nachdem wir gestern andere, sehr erfahrene Fahrradfahrer kennen lernen durften und uns etwas austauschen konnten, haben wir den Entschluss gefasst zumindest einen kleinen Streifen der Westküste von Vancouver Island zu befahren. Deshalb geht es heute auf nach Port Renfrew, was stolze 100 km von unserem Ausgangspunkt entfernt und laut unseren Informationen eine sehr anspruchsvolle Tour ist.

Also nicht lange auf meiner viel zu dünnen „Matratze“ rum liegen, aufstehen, frühstücken, Zähne putzen, das Zelt abbauen, alles möglichst kompakt auf den Rädern verstauen und los geht’s!

Direkt am Anfang wartet auch schon der erste Knaller auf uns. Die Humpback Road ist unglaublich steil und zieht sich ekelhaft lange. Aber meckern bringt ja nichts, also rein in die Pedale treten bis der Gipfel erreicht ist.

Kein Wunder, dass sich mein Blutzucker danach bereits im freien Fall befindet, obwohl ich mein Insulin vorher radikal reduziert habe. Alles aber noch im Rahmen, d.h. weiter geht’s durch den dichten Wald in dem wir uns nun befinden. Der Weg ist etwas ruckelig, es geht über kleine Hügel auf und ab und es macht einfach nur Spaß Fahrrad zu fahren bei der schönen Natur, die uns umgibt.

Nach ca. einer Stunde erreichen wir das Ende des Weges, verlassen den Wald und müssen auf die Autobahn. Jetzt nur nicht wieder in irgendeinen blöden Nagel fahren, so wie es zwei Tage zuvor der Fall war. Auf den Seitenstreifen tummeln sich nämlich so einige Dinge, welche einem schnell zum Verhängnis werden können. Dieses Mal habe ich Glück und es passiert nichts, während wir die stetig ansteigende Straße hochstrampeln. Meine Blutzuckerwerte sind weiterhin im grünen Bereich und eine kurze Pause, in der ich ein paar Kohlenhydrate zu mir nehme, reicht vorerst aus.

Während zu Beginn noch die Sonne schien, ziehen immer mehr Wolken auf und es kühlt deutlich ab, je näher wir der Westküste der Insel kommen. Und dann sehen wir es auch schon: Wasser, so weit das Auge reicht. Die See ist wild und mittlerweile liegt eine dichte Wolkendecke über uns. Das kann ja heiter werden, denke ich und muss gleichzeitig der Schönheit unserer Strecke Respekt zollen. Hauptsächlich sind wir rechts und links von dunkelgrüner Flora umgeben, doch ab und zu verläuft die Straße genau am Meer entlang. Ein toller Mix!

Streckenabschnitt direkt entlang des Meeres

Das Wetter wird nicht besser…

Smile

Mein Freund: das Schokocroissant!

Mittlerweile fallen die ersten Regentropfen und die Kälte wird strenger, während wir uns hauptsächlich bergauf kämpfen müssen. Selbstverständlich meldet sich da wieder der Diabetes, denn die zu mir genommenen Kohlenhydrate verpuffen regelrecht, obwohl ich wirklich 0,0 Insulin spritze. Jetzt heißt es vorsichtig und aufmerksam sein, denn so wirklich Bock vom Fahrrad zu fallen habe ich nicht.

Da spielt es uns wunderbar in die Karten, dass wir auf halber Strecke des bisher steilsten und längsten Anstieges ein kleines Café finden. Absolute Gönnung ist jetzt angesagt, also her mit dem Schokocroissant und weiter geht’s!

Wie uns versprochen wurde, bleibt die Route unglaublich herausfordernd und an manchen Stellen müssen wir auch absteigen und schieben. Was aber noch viel verrückter ist: wir haben nur die Hälfte hinter uns und das Wetter wird irgendwie auch nicht besser. Es ist kalt und genau wie die vor uns liegende Straße sind unsere Klamotten komplett nass. Ein Mix aus Schweißperlen und Regentropfen läuft mir über das Gesicht und meine Nase kennt auch kein Halten mehr.

Mit zugekniffenen Augen und leicht geöffnetem Mund sitze ich auf dem Fahrrad und trete in die Pedale, während die Landschaft an mir vorbeirauscht. Ich schaue nach rechts und erblicke einen Bach, der sich wie ein kleiner Wasserfall seinen Weg den Berg hinab sucht. Ich schaue nach links und kann durch den dicken Nebel hier und da das Meer erahnen. Und in genau diesem Augenblick sprudelt die Freude, die dieser Moment erzeugt, regelrecht aus mir heraus und zaubert mir ein dickes, fettes Grinsen aufs Gesicht. Darauf folgen mehrere Freudenschreie und ganz viel herzhaftes Lachen. Ein Moment für die Ewigkeit!

Bevor wir die letzten 30 Kilometer in Angriff nehmen, heißt es noch einmal eine etwas größere Pause einlegen um Essen zu kochen und eine sichere Weiterfahrt mit stabilen Werten gewährleisten zu können. Zeit für den Endspurt!

Auch der letzte Streckebabschnitt verwöhnt uns mit weiteren Bergauf-Fahrten. Und während ich mich noch Frage, ob es das nicht so langsam gewesen sein sollte, rollen wir bergab. Und zwar richtig! Mit stetig steigender Geschwindigkeit brettern wir die nasse Straße den Berg herunter und werden schneller und schneller! Der Wind peitscht uns ins Gesicht, das Grinsen wird vor lauter Adrenalin-Austößen immer breiter, doch gleichzeitig ist mir bewusst, dass ich höllisch aufpassen muss, damit ich mich jetzt nicht richtig mies auf die Fresse lege. Keine Ahnung wie viel km/h wir drauf haben, ist mir auch völlig Schnuppe, denn ich bin zu 120% auf die letzten Meter fokussiert.

Und dann ist es soweit. Wir rollen mit den Rädern aus, schauen uns mit großen Augen an, lachen uns über die gerade hinter uns liegende Abfahrt schlapp und dann sehen wir dieses wunderschöne Schild mit der Aufschrift: Port Renfrew!

Wir machen einen kurzen Halt, stellen uns vor das Schild und insbesondere ich schreie die 100 km, die in meinen Beinen stecken aus mir raus, während die Kamera alles aufnimmt.

Was für ein Tag!

Port Renfrew am nächsten Tag

Strand in unmittelbarer Nähe unserer Zelte