Der Wecker klingelt, 8.30 Uhr im „Auberge de Jeunesse“ in Montréal. 8.30 Uhr? Das hört sich doch ganz human an. Jedenfalls wenn man am Abend zuvor zu einer anständigen Zeit ins Bett gegangen ist. Sowas kommt momentan jedoch eher selten vor.

Wieso? Ganz einfach, ich bin ständig auf Achse, immer mit Leuten unterwegs, die ich an vorherigen Tagen oder auch am selben Tag im Hostel kennen gelernt habe und genieße das Leben hier in vollen Zügen. Viel Zeit bleibt daher momentan nicht für solch nebensächliche Dinge, wie diesen sogenannten „Schlaf“.

Wie denn auch? 6 Tage die Woche Arbeit bei Diablos BBQ-Grill in der Altstadt, wo ich mittlerweile auch über 40 Stunden die Woche mache, 15-20 Stunden die Woche Arbeit im Hostel und dann… ja dann will man eben auch einfach noch die Sachen machen auf die man Bock hat ohne, dass sie im Zusammenhang mit einem der beiden Jobs stehen. Man ist ja schließlich in dieser wahnsinnig geilen Stadt namens Montréal!

Die meisten Tage in den letzten zwei Monaten sahen daher wie folgt aus. 8.30 Uhr aufstehen, 10 Uhr am BBQ Grill oder in der Küche stehen, gegen 6 oder 7 Uhr wieder im Hostel ankommen, wo ich dann je nach Aktivität offiziell von 8 bis maximal 3 Uhr in der Nacht eingespannt bin. Wie gesagt, offiziell!

Meist wird es gerade bei den Pubcrawls 4 Uhr oder noch später. Und wenn ich nicht im Hostel arbeite ist hier immer irgendetwas oder irgendjemand, der einen dann doch noch davon überzeugt rauszugehen und die Nacht zu eben jenem Tag zu machen, den ich eigentlich durch die ganze Arbeit verpasse. Dementsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass kurze Nächte von gerade Mal nur 2 bis 4 Stunden Schlaf in letzter Zeit nicht selten waren, sondern im Gegenteil, fast zum Standard wurden. Denn das ganze Spiel geht ja mit dem 8.30 Uhr Wecker wieder von vorne los.

So sieht also mein Work-Teil hier in Kanada aus und ist damit komplett anders, als alles was ich zuvor gemacht und mir vorgestellt habe. Dass ich viel arbeiten will war mir von Anfang an klar. Dass es dann aber so viel sein würde, hätte ich nicht gedacht. Für mich aber noch viel interessanter ist die persönliche Feststellung, dass ich trotz meines Diabetes dazu in der Lage bin, so ein enormes Pensum an Arbeit und Party zu stemmen. Jetzt mag sich der ein oder andere Fragen: „Ja, warum denn nicht?“.

Dazu muss ich mein bisheriges Leben mit Typ 1 Diabetes und insbesondere einen Punkt, der wohl jedem Typ 1er bekannt sein sollte, genauer beleuchten.

Es ist nun ziemlich genau 2 1/2 Jahre her, dass Blutzuckermessgerät und Insulin-Pen stets in meiner Hosentasche, meinem Rucksack oder zumindest in greifbarer Nähe sind (Wow, schon 2 1/2 Jahre!?). Wie ich mich dabei in den ersten Monaten gefühlt habe und wie lange es gedauert hat, die Krankheit wirklich zu akzeptieren und in den Alltag zu integrieren habe ich ja bereits in einem anderen Beitrag erwähnt erwähnt.

Diese Akzeptanz wird jedoch immer wieder auf die Probe gestellt, was unterschiedliche Gründe haben kann. Und um jetzt gar nicht lange um den heißen Brei herum zu reden möchte ich ganz schnell zu dem einen Punkt kommen, um den es mir in diesem Blogeintrag geht: Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Antriebslosigkeit. Kurz: Gefühle der Schwäche, die einem den Alltag ungemein schwer machen und auch durchaus in der Lage sind einen Tag und dessen gesamte Planung von jetzt auf gleich mal eben komplett über den Haufen zu werfen, worüber ich ja ebenfalls schon an anderer Stelle berichtet habe.

Seit meiner Diagnose kam dies bei mir sehr häufig vor und solche Sachen wie Mittagsschläfe, die für mich vorher eher ein Fremdwort waren haben in den letzten 2 Jahren dann doch mehr Zeit als in den vorangegangen Jahren in Anspruch genommen.

Ratlosigkeit und Niedergeschlagenheit stellten sich diesbezüglich bei mir ein und ich wusste nicht wie ich das ganze überwinden sollte. Ich versuchte mir ständig vor Augen zu halten, dass all dies nicht nur am Diabetes liegen kann und ich ihn auch nicht immer als Ausrede benutzen darf und will. Womit ich mal mehr, mal weniger erfolgreich war.

Mittlerweile kann ich zurückblicken und mit Gewissheit sagen, dass dies auch der richtige Gedankenansatz war. Ein chaotischer Blutzuckertag mit High’s und Low’s, stellt großen Stress für den Körper und die Psyche dar. An diesen Tagen heißt es stark sein, wenn möglich nicht sein Lachen zu verlieren, sondern im Gegenteil, gerade eben dann versuchen zu lachen und schauen, dass man den Blutzucker wieder in den Wunschbereich steuert. Klappt nicht immer, aber immer öfter. 😉

Der ein oder andere mag sich jetzt an dieser Stelle, dass diese „Gefühle der Schwäche“, um mal bei diesem Terminus zu bleiben, aber auch durch eine ganze Reihe anderer Einflussfaktoren, Umstände und Situationen hervorgerufen werden können. Und da habt ihr natürlich Recht, denn man muss nicht zwangsläufig Typ 1er sein um sich so zu fühlen. Aber Fakt ist eben auch, dass der Diabetes eine große Belastung im Alltag darstellt. Besonders, wenn man sich noch in der „Kennlernphase“ befindet.

Und wenn ich so zurückschaue weiß ich mittlerweile, dass ich mich nach meiner Diagnose mit so einigen Dingen rumschlagen musste, die es mir zusätzlich erschwerten, den Kopf hoch zu halten und positiv nach vorne zu schauen.

Mein Lichtblick: Work & Travel in Kanada. Dieses Bauchgefühl war irgendwie immer vorhanden und was soll ich sagen… Manchmal sollte man einfach seinem Bauchgefühl vertrauen.

Wie ich mittlerweile schon öfters erwähnt habe fühle ich mich hier pudelwohl. Dieses internationale Hostel-Umfeld, ermöglicht es mir mich mit Leuten aus aller Welt auszutauschen und neue Denkansätze aufzuschnappen. Die Tatsache, dass ich einen Sommer in Montréal mit tollen Arbeitskollegen und neuen Freunden verbringen durfte, hat mich persönlich unglaublich bereichert. Und zwar, weil diese Art zu leben genau mein Ding ist! Das ist mir definitiv klar geworden.

Dazu gesellt sich noch ein riesiger Haufen weiterer Gründe, aber um nicht zu weit abzuschweifen und beim eigentlichen Thema dieses Posts zu bleiben, möchte ich auf einen Grund genauer eingehen. Etwas dass ich gerne als surfen beschreiben würde. Ja richtig gehört, surfen! Natürlich nicht auf Wellen aus Wasser, nein. Sondern auf Wellen der guten Laune. Hört sich wahrscheinlich irgendwie ein wenig kitschig an, aber jetzt mal ernsthaft. Die Stimmung hier ist echt ansteckend und meiner Meinung nach der Grund wieso ich in der Lage war, den Sommer 2016 in Montréal so intensiv zu leben ohne mich dabei völlig kaputt zu fühlen oder Probleme mit meinem Zucker zu bekommen. Natürlich war nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen und manchmal musste ich auch auf die Zähne beißen, aber zu 90% war es einfach nur eine unglaublich tolle Erfahrung, die mir endgültig gezeigt und bestätigt hat, was ich tief im Innern die ganze Zeit wusste: Ich kann das! Ich bin stärker und in mir steckt genug Energie um all meine Ziele zu erreichen, auch mit Diabetes!

Die Zeit hier hat mich definitiv dazu befähigt, die vergangen Jahre besser zu verstehen und was am wichtigsten ist, meine Lehren daraus zu ziehen. Ich komme mit meiner Erkrankung noch besser zurecht, als zuvor. Alles läuft nochmal spielerischer ab. Mechanismen in meiner Therapie greifen besser und ich fühle mich gesünder…

Einfach unglaublich was hier passiert ist.

Es ist schon interessant was alles so passieren kann, wenn man einfach genau das macht, was man möchte.

In diesem Sinne, ein Hoch auf unser Bauchgefühl! Lasst euch einfach mal von euren Instinkten leiten.

Liebe Grüße aus Montréal,

Michi